Ausgangslage
Wir sind in unserer Jugendhilfeeinrichtung immer wieder mit dem Missbrauch von Drogen konfrontiert. Eine große Anzahl unserer Jugendlichen hat vor der Heimaufnahme illegale Drogen konsumiert, darunter sind auch solche Jugendliche, die aufgrund von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz bereits durch ein Gericht verurteilt worden sind und unter Umständen Hafterfahrung hinter sich haben (U–Haft, Strafhaft).

Unsere Heim- und Gruppenordnung verbietet den Missbrauch von Alkohol und den Besitz und Konsum von illegalen Drogen. Wer mit Drogen handelt, wird aus dem Heim entlassen. Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens werden die Jugendlichen und deren Eltern über diese Bestimmungen informiert. Im täglichen Umgang weisen unsere Erzieher, Meister und Lehrer die Jugendlichen auf das Verbot und die körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die bei Drogenmissbrauch auftreten können, hin. Auch auf die damit verbundene Gefährdung des Ausbildungs- und Schulplatzes, letztlich auch des Heimplatzes. In den Hilfeplan- und Elterngesprächen ist diese Problematik immer wieder Thema, ebenso in den Erzieherkonferenzen und Teamgesprächen.

Im Rahmen von internen Fortbildungsveranstaltungen (z.B. Vorträgen und Demonstrationen durch die Polizei) oder Teilnahme an externen Tagungen und Seminaren werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Problematik sensibilisiert und erhalten Handlungsempfehlungen für den täglichen Umgang.
Mit der Drogenberatungsstelle, ambulanten und stationären Therapieeinrichtungen, der Polizei und der Bewährungshilfe arbeiten wir eng zusammen, um bei gravierenden Entwicklungen Unterstützung zu erhalten. Wir veranstalten für die Jugendlichen Suchtpräventionstage in Kooperation mit dem Technologiezentrum Mannheim, der Krankenkasse und der Polizei. Drogentests führen wir zum Teil selbst durch (Teststreifen), zum Teil veranlassen wir sie (Labor). Drogenbesitz und –handel werden zur Anzeige gebracht. In Einzelfällen vermitteln wir Jugendliche in die Drogenberatung, in einen Entzug oder in eine stationäre bzw. ambulante Therapie und verknüpfen den Beratungs- und Behandlungserfolg mit dem weiteren Verbleib bei uns.

Durch den eng strukturierten Tagesablauf, unsere Betreuungs- und Beziehungsarbeit, die sowohl den persönlichen Kontakt als auch Kontrollen einschließt, sowie unser pädagogisches Angebot in der Ausbildung, in den Schulen und in der Freizeit versprechen wir uns einen präventiven Effekt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedenen pädagogischen Bereiche (Wohngruppe, Werkstätten, Schulen) stehen in einem engen Informationsaustausch.

Die Erfahrungen haben gezeigt, dass trotz dieser vielfältigen und engagierten Bemühungen das Drogenproblem letztlich ungelöst und mehr oder weniger virulent bleibt. Es gibt und gab immer wieder Jugendliche, die Drogen beschaffen und ins Heim bringen, Jugendliche, die konsumiert haben und weiter konsumieren, auch solche, die bei uns erstmalig mit Drogen in Kontakt treten.
Eine weitere Feststellung ist die, dass es keine Rezepte gibt, die zu einem 100%-igen Erfolg führen, weder für den Einzelfall noch für die Einrichtung als Ganzes. Es wird bei uns weder den absolut drogenfreien Raum geben noch werden wir künftig alle Konsumenten zur Drogenabstinenz führen.

Anlass, einen neuen Weg einzuschlagen
Vor dem Hintergrund dieser nüchternen Bestandsaufnahme und einer augenscheinlichen Zunahme des Drogenkonsums in unserer Einrichtung haben wir im November 2004 zu diesem Thema eine Konferenz einberufen, um nach neuen Lösungswegen Ausschau zu halten.

Einerseits standen wir unter dem Druck, rasch pädagogisch zu handeln, andererseits erschienen uns die in Betracht gezogenen „Schnellschüsse“ wenig hilfreich, bzw. sie hinterließen allesamt ein Unbehagen. Bei einer polizeilichen Anzeige würden wir das Gesetz des Handelns abgeben mit dem mäßigen Erfolg von Zimmerdurchsuchungen, Vernehmungen und letztlich, sollte überhaupt etwas strafrechtlich Relevantes herauskommen, einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft. Das berühmte, aber noch nie bewährte, „Bauernopfer“, d.h. der Rauswurf des/der Hauptübeltäter/s, würde zwar kurzfristig den einen oder anderen Jugendlichen beeindrucken, auch den einen oder anderen Mitarbeiter beruhigen, aber die Halbwertszeit solcher schockartigen Machtdemonstrationen ist erfahrungsgemäß gering, noch geringer der Lerneffekt bei den Jugendlichen, wenn man davon absieht, dass sie lernen, beim Konsum illegaler Drogen vorsichtiger zu sein. Auch die Wirkung von Appellen nach mehr und nachdrücklicheren Kontrollen lässt in der Regel nach.

Aus dieser Mischung aus Handlungsdruck, Unbehagen und dem Wunsch nach pädagogischer Effektivität entstand das nachfolgende Konzept. Es ist als weiterer Baustein und Versuch zu betrachten, das Drogenproblem in unserer Jugendhilfeeinrichtung anzugehen und kein Ersatz für die bisherigen Vorgehensweisen.

Das Konzept
Das Neue an dieser Herangehensweise ist, dass sie konsequent pädagogisch – handlungsorientiert ist, d.h. Elemente der Abschreckung (polizeiliche Anzeige, Rauswurfdrohung) treten zurück, ebenso der Aspekt, durch Informationen oder „intensive“ Gespräche Einsicht erzielen zu wollen oder den Jugendlichen Versprechungen abzunötigen. Auch ein therapeutischer Anspruch besteht nicht. Wir verbinden mit dieser Methode vielmehr die Erwartung und Hoffnung, dass der Jugendliche im Vorfeld rational abwägt, ob er Drogen konsumieren wird und damit Einschränkungen und Verzicht auf Privilegien, gegebenenfalls auch einen Statusverlust, in Kauf nimmt, oder ob er auf den Konsum verzichtet. Wir weichen mit diesem Konzept von einer individuellen Sichtweise ab. Die Einrichtung als Ganzes positioniert sich zum Drogenmissbrauch und alle Jugendlichen unterliegen den gleichen Bedingungen und Konsequenzen.

Ausgangspunkt ist der, dass die Jugendlichen im Vorfeld per Aushang und im persönlichen Gespräch über die pädagogischen Konsequenzen bei einem positiven Drogentest informiert werden. In den Wohngruppen werden Screeninglisten angelegt, aus denen für jeden einzelnen Jugendlichen das Datum und das Ergebnis des Drogentests (+/-) hervorgeht. Dadurch haben alle Mitarbeiter einen Überblick. Die Problematik wird offen gehandhabt.

Die Informationen über das neue Konzept, die Konsequenzen und Sanktionen sind im Vorfeld in Erzieher- und Meisterkonferenzen, Teamgesprächen und schriftlichen Aushängen in allen Gruppen umfassend erfolgt. Die konkrete Umsetzung startete zum Jahresbeginn 2005 mit einem Drogentest (Teststreifen) aller Jugendlichen nach ihrer Rückkehr vom Weihnachtsurlaub. Mit dem gleichem Zeitpunkt wird diese Praxis auch bei Neuzugängen angewandt.

Die Konsequenzen bei positivem Testergebnis starten am gleichen Tag und beinhalten folgendes:

Sanktionen und Einschränkungen für einen Monat (= 4 Wochen bzw. 28 Tage):
TV, Spielekonsolen und Stereoanlagen werden eingezogen und einbehalten, Gelder für Freizeitgestaltung und Kleidereinkauf werden nicht ausbezahlt, d.h. diese Aktivitäten sind nur in Begleitung eines Erziehers möglich, Umstellung von Geld-Selbstverwaltung auf wöchentliche Taschengeldauszahlung.

Freizeitprogramm:
verbindliche Teilnahme an außerhalb der Gruppe stattfindenden Aktivitäten (siehe Wochenplan). In dem (Sanktions-)monat muss der Jugendliche an 12 Freizeitangeboten im Stift teilnehmen und auf einer Karte selbständig 12 Unterschriften der durchführenden Erzieher einholen. Bei Verlust der Karte startet der Jugendliche bei Null. Sollten in dem Monat die 12 Unterschriften nicht erreicht werden, so verlängern sich die Sanktionen und Einschränkungen, bis die Unterschriften vollständig sind.

Weitere Bestimmungen:
Nach einem Monat wird ein weiteres Screening folgen. Bei positivem Ergebnis tritt der Sanktionsmonat von neuem in Kraft. Bei Verdacht auf Drogenkonsum sind jederzeit Screenings möglich. Positiv getestet Jugendliche zahlen den Test von ihrem Taschengeld (3 bzw. 15 €). Jugendliche, die das Screening verweigern, bzw. ohne vorherigen Test Drogenkonsum einräumen, werden als positiv getestet bewertet und tragen die gleichen Konsequenzen.

Oktober 2005: Bilanz und Weiterentwicklung

Nachdem das Drogenkonzept seit Januar 2005 in unserer Einrichtung umgesetzt wird, lassen sich die Ergebnisse der Auswertungsrunden, die seither stattgefunden haben, wie folgt zusammenfassen:

In der ersten Testrunde aller Jugendlicher und junger Heranwachsender aus dem stationären Bereich im Januar 2005 stellten wir fest, dass von 75 Getesteten „nur“ 15 positiv waren. Diese Zahl war insofern erstaunlich, als wir aufgrund von Gerüchten und Vermutungen aus dem Kreis der MitarbeiterInnen und Jugendlichen, in denen stets von 90 – 95 % Konsumenten die Rede war, von einer wesentlich höheren Quote ausgegangen waren. Wir haben weiterhin festgestellt, dass diese Zahl über die Monate weg relativ stabil blieb, wobei die Personen selbst variierten, d.h. es gab und gibt im Kreis der Konsumenten Zu- und Abwanderungen, selbstverständlich auch durch Aufnahmen und Entlassungen. Dabei ist es einigen, zuvor als starke Konsumenten eingestuften Jugendlichen gelungen, auf Dauer vom Drogenkonsum Abstand zu nehmen. Andererseits erlebten wir auch negative Überraschungen: Einige zuvor als harmlos eingestufte Jugendliche haben sich als hart gesottene Konsumenten erwiesen. Zeitweise hatten wir die Vermutung, dass die Drogen konsumierenden Jugendlichen nunmehr auf die legale Droge Alkohol umsteigen würden. Nur wenige Einzelfälle machten diesen Schritt. Wir nahmen schließlich den Alkoholmissbrauch auch in unser Konzept auf.

In den ersten Wochen nach Einführung haben die betroffenen Jugendlichen in Anbetracht der Konsequenzen, die sie nunmehr zu tragen hatten, gemurrt („Das könnt ihr nicht mit uns machen“), aber die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohngruppen haben mit Unterstützung durch die Leitung die Maßnahmen durchgetragen und –gefochten. Mittlerweile ist das Konzept im pädagogischen Alltag fest verankert und von den Jugendlichen akzeptiert.

In der Mitarbeiterschaft ist Handlungssicherheit eingetreten. Wenn Drogenkonsum auftritt und nachgewiesen wird, entstehen nicht mehr Situationen von Hilflosigkeit oder blindem Aktionismus, sondern es tritt ein stabiles pädagogisches Regelwerk in Kraft, welches Sicherheit und Orientierung gibt. Die Grundlage für das Handeln sind nicht Vermutungen, sondern objektive Tests. Die Ergebnisse der Tests haben wir in unser EDV – Netz gestellt, so dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller pädagogischer Bereiche (Wohngruppen, Werkstätten, Schulen) darauf Zugriff haben, orientiert sind und ihre erzieherische Arbeit im Einzelfall darauf ausrichten können.

Nicht alle Drogen konsumierenden Jugendlichen erreichen wir mit diesem Vorgehen.
Wenn nach dem zweiten oder dritten Durchlauf der Test immer noch positiv ist, stehen weiter gehende Hilfen an, z. B. die Vermittlung in eine Drogenberatung oder in eine stationäre Therapie. Die Trennung von einem Jugendlichen vollziehen wir dann, wenn weiterführende Hilfen ausgeschlagen werden und der Konsum zunehmend mit kriminellen Handlungen einhergeht.

Bisher haben wir ausschließlich mit THC – Teststreifen operiert. Um das Ausweichen auf andere Drogen zu erkennen, haben wir Multi – Tauch – Tests angeschafft, mit denen sich ein breiteres Spektrum an Rauschmitteln nachweisen lässt. Diese Tests setzen wir jedoch nur in begründeten Einzelfällen ein.